Sie war nackt.
Über ihre weichen, femininen Formen spannte sich eine Haut, die seiner Einschätzung nach immer noch zart und elastisch gewesen sein musste, obwohl die Frau die Fünfzig überschritten haben durfte. Keine Narben, soweit er erkennen konnte.
Sein kritischer Blick glitt an ihrem Körper nach oben. Schöne, volle Lippen, leicht geöffnet wie zu einem sanften Seufzer, nur ein wenig blass. Ihre nassen halblangen Haare, die in einem Mahagoniton frisch gefärbt waren, klebten an ihrem Kopf.
Von ihrem restlichen Gesicht wandte er lieber rasch den Blick ab. Für seinen Geschmack hatte sie zu lange im Wasser gelegen. Es war Winter, präziser gesagt Januar, seit Jahreswende war das Thermometer ganztägig unter null Grad geblieben, allerdings ohne in extreme Minusgrade abzusacken.
Das bedeutete, dass im Moment nicht viel Getier unterwegs war, um sich seinen Teil an frischem Fleisch zu holen. Vor allem aber keine Insekten.
„Genug gesehen, Herr Golob?“, wollte Ludovika Zrenner, die an diesem Tag diensttuende Gerichtsmedizinerin und Vertragsärztin der österreichischen Kriminalpolizei, wissen. Sie hüstelte, dabei stob eine Wolke weißer Atemluft aus ihrem Gesicht. Golob nickte und stieß seine geballten Hände in seine Anoraktaschen. Er hatte in der Eile vergessen, Handschuhe mitzunehmen. Dr. Zrenner zog den Reißverschluss des schwarzen Leichensacks zu. Wieder einmal lag ein – wie immer sinnlos – ausgelöschtes Menschenleben in einer Hülle aus Polyurethan vor ihnen auf dem Boden.
Dieser Boden war hart gefroren und gehörte zum bewaldeten, östlichen Steilufer der Salzach; gegenüber, auf der deutschen Seite, lag Burghausen. Es hatte zu dämmern begonnen, wie stets an gleichmäßig bedeckten Wintertagen glanzlos und früh. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten den Uferspazierweg bereits vor zwei Stunden weiträumig gesperrt; um diese Stunde jedoch waren keine Wanderer mehr unterwegs. Zwischen den kahlen Baumkronen spannte sich ein bleifarbener Himmel, der lediglich von Saatkrähen bevölkert war. Irgendwo hallte durch das in diesem Teil enge Salzachtal ein Geräusch, das gut und gerne ein Schuss hätte sein können.
Ivo Golob schüttelte sich, als wolle er die nasse Kälte des Flusses loswerden, und blickte dem Leichensack nach, den zwei Sanitäter auf eine Trage gepackt hatten und nun über den Uferweg davontrugen. Eine kleine Person, schoss es Golob durch den Kopf, etwa 1,60 m groß. Er grub seine unbehandschuhten Hände tiefer in die Taschen seiner Daunenjacke.
„Hatte sie etwas bei sich?“, fragte er, sobald die Routine in seinem Verstand angesprungen war wie ein Notaggregat und den Schrecken im Zaum hielt, den er immer noch – sogar nach zwanzig Jahren Tätigkeit für die Mordkommission der österreichischen Kriminalpolizei – jedes Mal verspürte, wenn er eilig an den Fundort einer Leiche gerufen wurde, deren Sterbeumstände suspekt erschienen … Dr. Zrenner winkte eine Beamtin der Spurensicherung heran. „Habt ihr irgendwas?“, wollte sie wissen.
Ivo Golob atmete hörbar ein. „Soll das heißen, Frau Doktor, dass die Leiche einfach so aufgefunden wurde: Ohne Kleidung, ohne jedwede Ausweisdokumente?“ Seine dunklen Augen hefteten sich durchdringend an die Rechtsmedizinerin. Sie hielt seinem Blick stand.
„Was dachten S’?!“, erwiderte sie unerschütterlich. „Persianermantel? Hosenanzug? Wann i Sie ruf: ‚Nackerte Wasserleichen‘?!“ Dr. Ludovika Zrenner schüttelte den Kopf. „Männer! Zuhörn können’s aafach net!“
Garamond, „Der Oberleutnant überhörte ihre respektlose Erwiderung.
„Nun?“, wollte Zrenner von der jungen Beamtin wissen. Mittlerweile waren mehrere 1000 W Scheinwerfer aufgestellt worden, um den Fundort auszuleuchten. Das Dröhnen des Stromaggregats machte die Krähen auf den Bäumen – die wahrscheinlich immer noch auf ein Häppchen zum Abendessen spekulierten – erneut nervös; ihr aufgeregtes Krächzen übertönte kurzfristig den Lärm des Dieselmotors. Die junge Polizistin hielt einen durchsichtigen Kunststoffbeutel hoch, der ein Stück Stoff enthielt. Das Textil war nass, wirkte fein, fast durchscheinend, und war einfarbig blassblau. „Das war um das linke Knie der Toten gewickelt.“
„Ist das alles?“, fragte Golob. Seine Finger begannen, klamm zu werden, er unterdrückte einen Fluch. Das hier konnte sich noch ein paar Stunden hinziehen. Die Beamtin nickte. Dr. Zrenner kramte in den Innentaschen ihres gefütterten Parkas und angelte eine zerknautschte Packung Camel Filter heraus. „Tscha“, meinte sie, „nicht gerade das geeignetste Outfit für einen Winterspaziergang an der Salzach. Mal schaun, ob sich noch was findet … mögen S’ auch an Tschick?“ Sie hielt dem Oberleutnant die Zigaretten hin.
Der schüttelte mit zusammengebissenen Lippen den Kopf. „Danke, hab mir‘ s schon lang abgewöhnt!“
Ludovika Zrenner blickte den Sanitätern und der Trage mit dem Leichensack nach, die allmählich von Wald und Dämmerung aufgeschluckt wurden. Der Leichenwagen parkte ein ganzes Stück weiter oben auf einem Holzabfuhrweg. Nachdenklich blies sie den Rauch aus. „Stumpfe Gewalt“, meinte sie, ohne irgendwie gefragt worden zu sein. „Sie haben sie nur von vorne gesehen, Herr Golob – aber irgendwer hat mit einem schweren Gegenstand wie ein Besessener auf ihren Hinterkopf eingeschlagen. Das dürfte sie nicht lange überlebt haben. Ich schätze, das war die Todesursache. Aber das behalten S’ erst amal für sich, Herr Oberleutnant – ich muss erst noch die ganzen Feinarbeiten machen.“
Golob rieb seine eisigen Finger. „Bis wann hab ich Ihren Bericht, Frau Doktor?“ Die Gerichtsmedizinerin kniff ihre Augen – sie schienen dunkel, fast schwarz – zusammen. „Den von der Obduktion morgen Abend – is grad net so viel los; außer zwei erfrorenen Sandlern liegt nichts an. Tox und Drogen eher in zwei Tagen, die Proben müssen nach Linz.“ Sie warf ihre Kippe in den Schnee, wo sie zischend verglühte. „Dann also Servus, Herr Oberleutnant. Ich darf jetzt Feierabend machen“, setzte sie ihrem Abschiedsgruß überflüssigerweise hinzu, zog sich ihre dicke Strickmütze tiefer in die Stirn und stapfte davon, ihrer warmen Wohnung entgegen. Der Oberleutnant blickte ihr, ohne es zu wollen, hinterher. Eine nicht eben große, leicht rundliche Frau Mitte Fünfzig, die ihr Haar immer noch offen und schulterlang trug und mit Henna leuchtend rot färbte.
Vor etwa einem halben Jahr waren er und die Vertragsärztin bei einer Schulung in Linz zuerst mit einer vom Abendbuffet gemopsten, angebrochenen Flasche Zweigelt auf ihrem spartanischen Einbettzimmer des Tagungshotels gelandet, nachdem sie zuvor wie fast alle anderen Teilnehmer ordentlich vorgeglüht hatten. Als der Zweigelt geleert worden war, landeten sie schließlich miteinander im Bett.
Manchmal glaubte er, je länger ihr intimes Zusammenkommen zurücklag, dass dies womöglich gar nicht geschehen, sondern nur ein Traum gewesen war. Golob schüttelte den Kopf und ging hinunter zum Ufer der Salzach.
Gruppenoberleutnant Strauss kam ihm entgegen. „Servus, Ivo! Zu kalt zum Sterben, was?!“ – „Zu kalt für alles Mögliche …“, brummte Golob. Eigentlich mochte er den Leiter der Spurensicherung gerne leiden, es war sogar schon vorgekommen, dass sie abends miteinander auf ein bis mehrere Biere weggegangen waren.
Matthias Strauss griff wortlos in eine seiner ausgebeulten Jackentaschen und hielt Golob ein Paar Fleecehandschuhe hin. „Ich seh dir’s ja an der Nasenspitze an, dass du Eiszapfen hast statt Finger!“, meinte er grinsend. Gierig griff Golob nach dem hingehaltenen Handschuhpaar und streifte es mühsam über. Strauss‘ Grinsen wurde noch breiter: „Fix Laudon – was hast denn du für eine Handschuhgröße? Dieselbe wie der Yeti?“ Nun kam auch der Oberleutnant um ein leises Lächeln nicht herum: „Zehn – warum? Und überhaupt: Wenn ich auf Männer stehen würde, würd ich dir jetzt einen Heiratsantrag machen!“ – „Ah – geh!“
Schweigend gingen die beiden nebeneinander her hinab zum Ufer. Strauss räusperte sich. „Es gab im weiteren Umkreis um die Fundstelle keine Spuren von Menschen. Nur Trittsiegel von Wild – Reh, Fuchs.“ Er blickte zu Golob hoch. „Was das bedeutet, brauche ich dir wohl nicht zu erklären …“ Golob war einen Moment lang abgelenkt von dem wohligen Gefühl der Wärme, die langsam in seine eisigen Finger zurückströmte. Dann nickte er, zunächst mechanisch, dann rasch begreifend. „Sie wurde angeschwemmt“, stellte er fest. Nun war es an Matthias Strauss zu nicken.
„Und jetzt zeig mir bitte, wo sie gefunden wurde!“, forderte der Oberleutnant den Leiter der Spurensicherung auf. Wortlos führte Matthias Strauss ihn zu einer Uferstelle, wo der Schnee auf dem Waldboden durch zahlreiche Füße schon längst festgetreten war. Die Stelle war nichtssagend: Etwas Totholz hing hinab ins dunkle, gluckernde Wasser der Salzach. Schwacher Bewuchs mit dürren Gräsern, auf denen sich eine zarte Puderschicht Schnee abgesetzt hatte. Von den Sicherungsbeamten plattgetretenes welkes Farnkraut, das in seiner Hinfälligkeit an den ewigen Kreislauf der Natur erinnerte. Ein wenig angespülter Müll, nicht genug, um einen Umweltschützer aufzuregen.
Sie standen nebeneinander an der Böschung; mittlerweile war es völlig dunkel geworden. „Kaugummi?“, fragte Strauss den Oberleutnant und hielt ihm eine Packung Wrigleys Spearmint hin. Der lehnte erneut ab. „Nun“, meinte Strauss, „sie ist also von irgendwo her von der Salzach angeschwemmt worden … Pech für uns …“
Ivo Golob erwiderte nichts, sondern starrte auf die Silhouette der Burghausener Burganlage, die sich gegen den undifferenzierten Nachthimmel abhob, und auf das nördlich von der Stadt gelegene, hell erleuchtete Chemiewerk. Es roch nach neuem Schnee. „Ja, Pech für uns …“, erwiderte er mit fatalistischer Tonlosigkeit.
Dann starrte er hinunter auf die ausgewaschene und hart gefrorene Böschung.
„Prallhang. Gleithang …“, murmelte er.
„Bitte schön?“, fragte Strauss ein wenig ratlos.
„Die Salzach ist ein natürlich verlaufender Fluss, zumindest hier ist sie nicht begradigt. Das soll heißen, dass sie wie jeder Fluss mäandert. Das bedeutet, dass die Strömung von den Kurven, die sozusagen nach außen führen, weggeht – und damit unvermindert auf die gegenüber liegende Innenkurve trifft“, erklärte Golob. „Aha“, meinte Strauss. „Wie’s ausschaut, stehen wir an so einer Innenkurve.“ Ivo Golob nickte. Einen winzigen Moment lang ärgerte sich, dass er die ihm vorhin von Dr. Zrenner angebotene Camel abgelehnt hatte. Denn ihm war schon längst bewusst, welche Konsequenzen diese Umstände nach sich zogen.
„Und wie’s ausschaut, werden wir die deutschen Kollegen informieren müssen. Weil man die Dame wohl auf deren Hoheitsgebiet zu Wasser gelassen hat“, stellte der Oberleutnant fest. Auf einmal waren seine Finger wieder kalt. Strauss schnaubte. „Soll ich mit Burghausen telefonieren?“, schlug er vor. Golob schüttelte den Kopf.
„Ich telefoniere mit Mühldorf“, ergab er sich in sein amtlich bestimmtes Schicksal.
2.
„Leckts mi am Arsch!!“, brummte der Erste Polizeihauptkommissar Emmeran Vilsmayr, wuchtete seinen stämmigen Körper aus dem Bürosessel und öffnete seinen Garderobenschrank. Energisch schlüpfte er in seinen Lodenmantel und stülpte sich seinen Hut auf den Kopf.
Afra Praxl, seine Sekretärin, die ihm seit mehr als dreißig Jahren den Rücken freihielt, hatte ihr gleichmütig freundliches Gesicht aufgesetzt. „I mein ja bloß, dass der Herr Polizeipräsident des Statement gern bis morgen Abend hätt, damit er’s noch gegenlesen kann, eh er in Urlaub fahrt!“, erklärte sie und schob ihrem Chef unauffällig einen dicken Aktenstapel auf den Schreibtisch.
Vilsmayr schnaubte. „Ah, gehen S’! Dann könnt mir der Herr Polizeipräsident gleich ‘s Arschlecken anschaffen bei dieser damischen saupreußischen Kuh von der Blöd-Zeitung!“
„Der Herr Polizeipräsident meint‘s eben gut …“
Seinen Mantel zuknöpfend, schnaubte Vilsmayr. „An Schmarrn meint er, der Sauschwab, der Datschiburger!“ – der Polizeipräsident stammte aus Augsburg – „I fahr jetzt rüber nach Altötting zum Tandler, mittag essen. Pfüat Eahna, Frau Praxl!“ Darauf stapfte er aus seinem Arbeitszimmer.
Seine Sekretärin schaute ihm hinterher; erst als er den Raum verlassen hatte, legte sie einen einzelnen Schriftsatz oben auf den Aktenberg. Sie kannte den Ersten Polizeihauptkommissar gut genug – vermutlich sogar besser als ihren Ehemann – um sich sicher zu sein, dass er das politisch so brisante Statement gegenüber einer gewissen überregional erscheinenden Tageszeitung mit sehr hoher Auflage bis morgen Mittag stillschweigend auf ihren Schreibtisch legen würde. Polizeipräsident Motzhardt würde es gegenlesen, wo nötig korrigieren, und damit eine unangenehme und nervöse Kuh vom Eis schieben. Aber um erst in der Lage zu sein, einen so heiklen Schriftsatz zu entwerfen, dazu bedurfte der Erste Polizeihauptkommissar eines angehobenen Blutzuckerspiegels.
Zu diesem Zweck begab er sich wie jeden Dienstagmittag von der Polizeidirektion in Mühldorf am Inn in das traditionsreiche Hotel zur Post am Kapellplatz zu Altötting. Da montags Schlachttag war, gab es dort dienstags traditionelle bayerische Gerichte mit Innereien.
Vilsmayr stapfte über die ausgeaperte Schneedecke des Kapellplatzes, ließ die Wallfahrtskapelle rechts liegen und strebte der Post auf der Stirnseite zu. Ein schneidender Nordostwind fegte über den Platz und ließ eine Gruppe von Ordensschwestern, die ihm in vor Kälte zusammengeduckter Haltung entgegenkam, aussehen wie eine Pinguinfamilie. Vilsmayr musste schmunzeln, da er sich an die Anekdoten seiner Schwestern über die Pinguine aus der Klosterschulzeit erinnert fühlte. Auch er hatte ein paar Jahre exklusiver Erziehung durch die Jesuiten genießen dürfen, musste dann aber die Oberstufe am Staatlichen Gymnasium in Altötting absolvieren. Leutselig warf er den Bräuten Jesu ein „Grüß Gott“ entgegen und tippte an seinen Hut. Er wartete sogar noch einen halben Augenblick lang auf das „Vergelt’s Gott!“, dann lenkte ihn die Vorfreude auf ein saftiges Beuscherl endgültig ins Poststüberl.
Schon beim Eintreten nahm Monika, die Saalchefin, Notiz von ihm, nickte ihm freundlich zu und winkte eine der jungen Servierkräfte diskret herbei, die dem Ersten Polizeihauptkommissar aus dem Walklodenmantel half und auch seinen Hut entgegennahm. Währenddessen hatte sich Monika bereits mit einer Speisekarte bewaffnet und wartete auf ihren Stammgast, um ihn ins Hinterzimmer des Poststüberls zu führen. Ein feines Ritual, das sich mit nur wenigen Unterbrechungen seit nunmehr zwanzig Jahren herausgebildet hatte und das ebenso verlässlich war wie die Agenda eines Hochamts. Vilsmayr ließ sich am Stammtisch an der Stirnseite des Raumes, wie stets direkt vor der Wand mit den Fotografien, nieder. „Grüaß Eahna Gott, Herr Polizeihauptkommissar! Mir ham heut a paniert’s Kalbsbries, und wenn S’ mögen a Leberknödelsuppen vorneweg“, schlug die große, kräftige Kellnerin vor.
„Passt scho! A kloans Dunkels hätt i gern dazu!“ – „Gerne.“ Monika zog sich zurück, Vilsmayr wandte sich wie jedes Mal der Fotogalerie in seinem Rücken zu. Die Wand hinter ihm war von mindestens fünfzig schlicht gerahmten Fotografien überzogen, die teils älteren, teils aktuelleren Datums waren. Manche von ihnen waren sogar signiert und gewidmet. Dass diese Zurschaustellung eine entfernte Ähnlichkeit mit den Votivtafeln im Wandelgang der Wallfahrtskapelle hatte, war möglicherweise keine Absicht. Aber ein beeindruckender Effekt.
Auf den älteren schwarz–weißen Bildern, die aus den Siebzigern und Achtzigern stammten, war noch der alte Tandler zu sehen; ab den farbigen Neunzigerjahren wurde er zunehmend von seinem Sohn abgelöst. Händeschüttelnde Männer, strahlend wie Sieger, demonstrativ Lodenanzüge – von Vilsmayrs jüngerem Sohn verächtlich „Raiffeisen-Smoking“ genannt – oder auch Tracht tragend. Die vollen Wangen ebenso glänzend wie die Augen, die hungrig in die Kamera blickten. Die Hände, die sich in den Händen von Mächtigeren, Bedeutenderen verankert hatten, ein minutenlanges Schütteln und rituelles ineinander Verkrallen zelebrierend.
Der Bürgermeister von Altötting – ein beliebtes, immer wieder gerne genommenes Opfer der Verbrüderung vor dem unbestechlichen Auge der Lokalpresse. „Es kommen, es schwinden die herrschenden Menschen im ewigen Rhythmus den Wogen des Thalatos gleichend …“ – im Schwarz-weiß der späten Siebziger, der frühen Achtziger ein kleines Männchen mit kahlem Quadratschädel, über dem vereinzelte Strähnen in akkurater Horizontalität gezogen waren. Querkämmerisches Gesamtkonzept ewiger Dynamik und damit Jugend.
Diverse Landräte, Mainstream in Nadelstreifen und stromlinienförmiger parteipolitischer Überregionalität. „Das Eigenständige bewahren. Aus der Kraft der Region schöpfen. Visionen für unser Land angehen.“
Der Ministerpräsident.
FJS – für alle Nicht-Bayern: Franz Josef Strauß – schätzte Aufnahmen in Schwarz-weiß. Edmund Stoiber bevorzugte Farbe – wohl, weil er die bei weitem blassere Persönlichkeit war. Den Beckstein, diesen protestantischen mittelfränkischen Hundling, hatte man gar nicht erst aufgehängt. Und Magic Horst, der hatte sich hier noch nicht sehen lassen … Aber die Hoffnung, die stirbt bekanntlich immer zu allerletzt …
Vilsmayr wartete geduldig auf sein kleines Dunkles. Und sah derweilen mit stolzer Andacht hinauf zu einer Schwarz-weiß-Aufnahme, auf welcher der stiernackige Ministerpräsident Strauß dem alten Tandler herzlich die Hand schüttelte. Im Hintergrund standen zwei junge Männer, eben noch erkennbar ausgeleuchtet, nebeneinander und peilten mit glühendem Stolz in die Kamera. Der junge Tandler, groß, breitschultrig, mit vollen dunklen Haaren, neben ihm sein gleichaltriger Spezl, etwas kleiner, um einiges gedrungener. Auch auf seinem Kopf sprossen damals die Haare noch üppig. Emmeran Xaver Vilsmayr. FJS hatte ihm und dem jungen Tandler, nachdem die Lokalpresse diese Aufnahme geschossen hatte, kurz und mit freundlicher Miene zugenickt, ehe sich der erfolgreichste Ministerpräsident, den der Freistaat Bayern je hatte, zusammen mit dem alten Tandler, dem Landrat und dem Bürgermeister in den Nebenraum des Bräustüberls zurückgezogen hatte …
„Ihr Bier, Herr Polizeihauptkommissar“, räusperte sich Monika diskret und stellte das Glas mit schäumender, dunkelbrauner Flüssigkeit vor ihm ab. „Prosit!“, setzte sie hinzu.
„Dank schön!“, erwiderte er, bevor er Schnauzbart und Lippen zuerst in den cremefarbenen Schaum und dann ins Bier tunkte. Das Dunkle vom Postbräu war wie immer satt gemälzt.
In diesem Moment ertönte der Bayerische Defiliermarsch.
Dies war überhaupt das allererste Mal, dass Vilsmayrs Diensthandy während der dienstäglichen Mittagspause in Tandlers Posthotel klingelte. Ungläubig starrte Vilsmayr auf das Display, nachdem er einen vorsorglichen Schluck Dunkelbier genommen hatte. Sein Büro … immerhin. Gott sei Dank nicht seine Privatnummer. Er ließ es ungläubig sechsmal klingeln, mindestens, nahm das Gespräch dann an, während die Saaloberin Monika mit dem schön angerichteten Kalbsbries mit Wellnudeln auf ihn zuhielt.
„Was gibt’s denn?“, blubberte er.
Monika setzte das appetitliche Bries mit einem ebenso appetitlichen Lächeln vor ihm ab. „Lassen S’ Eahna schmecken, Herr Vilsmayr!“, ermunterte sie ihn. Vilsmayr nickte.
„Herr Polizeihauptkommissar? Da ist Braunau in der Leitung …“ Afra Praxl machte allein akustisch den Eindruck, aufgrund dieser unerhörten Störung vor Scham in irgendeinem Boden versinken zu wollen.
Das Kalbsbries duftete. Es duftete nach Vilsmayrs Kindheit. Nach den Schlachttagen. Nach frischem Heu. Nach einem locker weiß-blau bewölkten Himmel. Nach summenden Bienen … Seine mit der Gabel bewehrte Rechte schnellte vor, spießte einen goldbraun ausgebackenen Brocken auf und führte ihn an seine sehnsüchtigen Lippen. Weich wie Butter, sämig im Inneren. Eine elende Sünde, voll von teuflischem Cholesterin. Das Bries – liegt es nicht direkt über dem Herzen …?
Vilsmayr kaute andächtig zu Ende. Braunau … Jetzt war Schluss mit lustig. „Herr Polizeihauptkommissar …?“ – „Ja??“ Ein letztes Schlucken. „Braunau – ein Oberleutnant Golob. Weiblicher Leichenfund gestern am späten Nachmittag an der Salzach – direkt gegenüber Burghausen“, setzte Frau Praxl hinzu. Vilsmayr schluckte. „Stellen ‘S den Ösi halt durch!“, seufzte er ergeben.
Die Salzach war eigentlich kein Fluss, in dem Menschen zu Tode kamen, weder freiwillig noch unfreiwillig. Den Wildwasserkanuten und ähnlichen Gestörten war sie zu zahm. Die Selbstmörder warfen sich bevorzugt auf die ICE-Trasse. Und im Suff purzelte da kaum einer hinein – zu wenige Gasthäuser in der nächsten Nähe. Vilsmayr rekapitulierte kurz; wenn er sich recht besann, lag der letzte Leichenfund an der Salzach gut und gerne zwanzig Jahre zurück – ein Jäger, den ein Herzinfarkt auf seinem Ansitz dahingerafft hatte. Er wurde neugierig, obwohl er immer noch ziemlichen Hunger hatte.
„Vilsmayr, Bayerische Kriminalpolizei!“, meldete er sich höchst offiziell.
Am anderen Ende schnaufte es leise. „Ah, grüß Gott, Ivo Golob, Kripo Braunau am Inn. Es tut mir leid, dass ich Sie beim Mittagsmahl stören muss, Herr Kollege Vilsmayr! Ich wollte Sie nur in Kürze informieren, bevor der offizielle Zirkus losgeht.“ Die sehr nahe wirkende Stimme von diesem Golob klang Vilsmayr nicht unsympathisch im Ohr, obwohl es der befürchtete wienerische Singsang war. Der letzte Braunauer Kriminaler, mit dem Vilsmayr zu tun gehabt hatte, war ein kerniger Zillertaler gewesen, fast schon ein Landsmann.
„Des is freundlich von Eahna. Wann, wer, wo?“, kam Vilsmayr sofort zum Wesentlichen. Denn gebackenes Bries kühlte immer sehr schnell aus.
„Eine Tote weiblichen Geschlechts, Identität unbekannt, Alter würde ich auf Ende vierzig schätzen, zumindest nicht mehr blutjung, aber auch noch keine Greisin. Sie ist gestern am Nachmittag am östlichen Steilufer der Salzach aufgefunden worden“, berichtete Golob.
‚Macht der aber lange Sätz‘!‘, dachte Vilsmayr. Aber gut – habe ich Zeit zum Essen. „Hmm“, murmelte er um ein Stückchen Bries herum. „Was Bsonders?“, wollte er pflichtgemäß wissen. Der Ösi machte eine kurze Pause. Wollte er ihn etwa beeindrucken – oder machte er auf Betroffenheit? Vilsmayr hatte von ihm die Vision, dass er lang und dürr war und höchstwahrscheinlich einen besorgten Dackelblick hatte, den er ganz unterschiedlich einsetzen konnte.
„Ja, schon. Zum einen war die Tote unbekleidet. Zum anderen ist sie dort, wo man sie gefunden hat, angeschwemmt worden,. Beim Fundort gab es nämlich keine Spuren von Menschen“, führte Golob aus,was Vilsmayr ein kurzes Schnauben entlockte. „Aha. Und wer hat’s dann gfunden? Fuchs oder Has?“
Erneut schwieg sich dieser Golob aus. Freilich klang es diesmal eher gekränkt. „Ein Forstadjunkt auf einer Kontrollfahrt durch sein Revier. Er hat sich vollkommen korrekt verhalten, als er durch sein Fernglas etwas Ungewöhnliches erblickt hat – näher als 20 Meter ist er zu Fuß nicht hingegangen.“
„Brav!“, zollte Vilsmayr Respekt. „Die Republik Österreich geht mit echtem Augenmaß bei der Auswahl ihrer Beamten zu Werk!“. Diesmal überhörte Golob die Spitze – und ging direkt zum Gegenangriff über: „Die erste Pressemeldung ist heute Morgen raus. War noch sehr neutral gehalten. Was in der Zeitung nicht erwähnt wurde, ist die Tatsache, dass die Gendarmerie des Bundeslandes Salzburg auch 5 km flussaufwärts auf österreichischer Seite am Ufer keinerlei Spuren gefunden hat. Und wenn man sich dann noch vergegenwärtigt, wie die Salzach bei Burghausen verläuft, dann kann das nur eins bedeuten …“
Golob, der erneut wahrlich genug Worte gemacht hatte, um Vilsmayr den Verzehr von mindestens drei Stücken Kalbsbries zu ermöglichen, hatte nun ein leicht triumphales Vibrieren in der Stimme, das Vilsmayr den fortgesetzten Verzehr des Brieses irgendwie verleidete. „… nämlich, dass die Tote von der deutschen Seite stammen muss!“
„Leckts mi am Arsch!“
Mehr fiel Emmeran Vilsmayr nicht ein.
Und zum ersten Mal in dreißig Jahren Servicetätigkeit erschrak Saaloberin Monika von den Emotionen eines Gastes.
3.
Über der pechschwarzen Silhouette eines halb zerfallenen Gebäudes ging ein Vollmond auf, wie sie noch keinen gigantischeren erblickt hatte, hellgolden und sanft schimmernd. Die Umrisse der Krater wirkten weich, nicht in jenem harten Kontrast, wie sich sonst durch Teleskope Krater und Meere gegen Hügel und Ebenen des Erdtrabanten abzeichnen.
Sie schloss einen Moment lang die Augen. Um die volle Scheibe des Mondes in dieser Größe betrachten zu können, hätte sie durch ein astronomisches Fernrohr mit einer Vergrößerung von 1 : 5.000 blicken müssen. Ihr fehlte in diesem Moment die vage Liebkosung einer warmen Sommernachtsbrise. Das Zirpen von Grillen. Der Duft von Meer, Seetang, Lavendel, Wein. Sie konnte sich nicht erinnern, in den letzten zehn, nein, fünfzehn Jahren solches Verlangen nach Berührungen auf ihrer Haut verspürt zu haben. Sie schüttelte sich leicht.
Sie öffnete ihre Augen einen Spalt breit – da patrouillierten zwei Gestalten auf den Zinnen des dunklen Gebäudes, offensichtlich Krieger, denn sie konnte die Umrisse von Helmen und langen Spießen erkennen.
„Wie schön ist die Prinzessin Salome heut‘ Abend …“, wisperte es an ihrem Ohr. Warmer Atem streifte ihre Haut, die feinen Flaumhärchen richteten sich auf – sie zuckte unwillkürlich zusammen.
„Nun genieße es!“, raunte die helle Stimme erneut an ihrem Ohr. „Und danach, danach will ich dir etwas ganz Besonderes zeigen. Etwas, das vor dir noch keiner zu sehen bekommen hat!“
Hektisches Stakkato der Holzbläser holte sie in die Realität zurück, die jedoch alles andere als schmerzhaft war. Schon lange, so schoss es ihr im selben Moment fast genießerisch durch den Sinn, hatte sie sich nicht mehr so leicht, unbeschwert und über dem Grau der letzten Jahre schwebend gefühlt wie in den vergangenen Tagen. Hedwig, eine ihrer wenigen wirklich engen Freundinnen, hatte für dieses wabernde, drückende Grau die Diagnose „Pechsträhne“ bereitgehalten und sofort wie ein guter, verantwortungsvoller Arzt ihre astrologischen Datenbanken konsultiert und ihr immer wieder Mut gemacht. Vorübergehende Oppositionen, Saturn, Jupiter, ein langer Plutotransit. Aus dem Off ertönte, nur unterlegt von wenigen Celli und Kontrabässen, die Stimme des Propheten, der einen Psalm intonierte.
Das Grau. Es war mehr, es war etwas anderes gewesen als ungünstige Planetenkonstellationen oder eine gedrückte Stimmung aufgrund hormoneller Ladehemmung. Wobei sie Letzteres für realistischer hielt. Grau war: Das Leben war ungerecht. Ungerecht zu Frauen, die sich auf der falschen Seite des 35. Lebensjahrs befanden. Aber Grau war zugleich auch nicht Schwarz. Man konnte sich darin einrichten, ja, es sich geradezu bequem machen wie mit einer extra großen Tasse Salbeitee mit Honig, wenn man eine dicke Erkältung in aller Ruhe auskurieren musste.
„Nein, ich höre nicht auf die Stimme meiner Mutter! Zu meiner eigenen Lust will ich den Kopf des Jochanaan haben!“ Die tragende Stimme der Sopranistin trug den Widerhall kindlicher Auflehnung in sich. Wie ein verwöhntes, sich in der Trotzphase befindendes Mädchen, das sich vor der Supermarktkasse und – viel wichtiger! – vor großem Publikum unter Schmerzensrufen auf den Boden warf. Weil es das kleine Einhorn aus rosa Glitzerplastik nicht bekommen sollte. Oder den Kopf eines biblischen Propheten.
Sein Gesicht kam ihrem Hals wieder sehr nahe, sie spürte die sich ihr nähernde Wärme. „Das ist wirklich dekadent!“, flüsterte sie mit verlegenem Schlucken – etwas Passenderes fiel ihr in diesem Moment voll ungreifbarer Intimität nicht ein. Gleichzeitig machte sich ein unerhörter Schauer in ihr breit, die wohlige Erkenntnis des Gleichklangs ihrer Seelen. Um etwas von dieser Tragweite zu begreifen, dazu musste man einen Menschen mitnichten seit Jahren kennen. Er hieß Johannes.
„Es handelt sich um eine Partitur des ‚Rosenkavalier‘ – mit Notizen von Wilhelm Furtwängler …“, raunte Johannes‘ Stimme sanft in ihr Ohr.
Das abgeschlagene Haupt des Jochanaan war in dieser Inszenierung durch ein Gebilde ersetzt worden, das gewisse schauerliche Ähnlichkeit mit einem gebrühten Schweinskopf aufwies, und wie in der Auslage traditionsbewusster Metzger ruhte es, umgeben von Papierrüschen, auf einem Chromtablett, garniert mit stilisierten Früchten. Herodes‘ Befehl war ein gellender Schrei: „Man töte dieses Weib!“